Oder warum die Corona-Krise zu weniger Gleichberechtigung und mehr Adultismus geführt hat
[Buchvorstellung / Rezensionsexemplar]
Eltern, insbesondere (aber nicht ausschließlich!) die, die Bedürfnisorientierung im Alltag leben, sprechen darüber, wie anstrengend der Alltag mit ihr/en Kind/ern gerade ist – und bekommen in unserer Gesellschaft oft einen Satz wie diesen zur Antwort: „Das bist du doch selbst schuld, also beschwer dich nicht!“
Wenn deine Kinder anstrengend sind, machst du als Elternteil etwas falsch, sagt dieser Satz. Ich gebe zu, bevor ich Mutter wurde, hatte ich ein anderes Bild vom Elternsein und auch von Kindern. Und dann war ich Mutter und alles war anders. Ich habe plötzlich eine ganz neue Sichtweise eingenommen und so vieles ganz anders getan, als ich vorher gedacht hätte.
Meine Prioritäten haben sich geändert – meine Sicht auf die Gesellschaft auch
Ja, ich wollte immer Kinder haben und unsere Kinder waren alle absolut gewünscht. Dennoch hatte ich vorher keine Ahnung, wie anstrengend es ist, Eltern zu sein und für einen (oder mehrere) kleine Menschen verantwortlich zu sein. Trotzdem bin ich immer froh zu hören, dass ich in einer Situation nicht alleine bin – dass es anderen Eltern genauso geht.
Und noch viel wichtiger: dass es überhaupt gar nicht meine Schuld ist, dass das Elternleben mit kleinen und großen Kindern anstrengend ist. Denn die Schuld oder das Problem liegt vielmehr im System bzw. in der Gesellschaft, dass insbesondere Deutschland so wenig kinderfreundlich ist.
Wie die Corona-Krise das Problem kinderfeindliches Deutschland verschärft hat
Zu Beginn der Corona-Krise wurde zur Eindämmung der Pandemie das Schließen von Kitas und Schulen diskussionslos beschlossen. Gleichzeitig wurden Spielplätze geschlossen und Eltern sollten aus dem Home Office weiter arbeiten. In Krisen wie dieser zeigt sich, welchen Stellenwert Kinder und Familien in unserer Gesellschaft haben. Ich habe zu diesem Zeitpunkt eine Blogparade gestartet mit dem Titel „Corona, Feminismus und Gleichberechtigung“.
Nathalie Klüver und Sabine Rennefanz haben beide vor kurzem ein Buch geschrieben, das an diesen Punkt anknüpft: Nathalie Klüvers Buch „Wie kinderfeindlich ist Deutschland“ aus dem Kösel Verlag und Sabine Rennefanz‘ Buch „Frauen und Kinder zuletzt“ aus dem Ch. Links Verlag möchte ich hier vorstellen.
Beide Bücher zeigen auf, wie Kinder und auch deren Mütter in unserer Gesellschaft benachteiligt werden. Sie legen aber nicht nur den Finger in diese Wunde, sondern zeigen auch Lösungsmöglichkeiten für eine gerechtere Gesellschaft auf.
„Deutschland, ein kinderfeindliches Land? Worunter Familien leiden und was sich ändern muss“ von Nathalie Klüver*
Nathalie Klüvers Buch beginnt mit der Corona-Krise, die aufgezeigt hat, wie wenig kinderfreundlich Deutschland wirklich ist – und wie Deutschland durch die Krise noch kinderfeindlicher wurde. Deutschland war eines der wenigen Länder, dass mit Beginn der Pandemie Schulen, Kitas und sogar Spielplätze (!) diskussionslos geschlossen hat. Ja, sogar ohne die zuständigen Ministerien wie die Familienministerin mit in den Tisch zu holen.
Familien und dabei insbesondere Kinder und Frauen werden in der Gesellschaft in Deutschland an so vielen Stellen benachteiligt. Seien es sogenannte kinderfreie Zonen wie Hotels oder Restaurants, in denen Kinder ausdrücklich verboten sind oder genervte Blicke von anderen wegen schreienden Kindern oder stillenden Müttern.
Müttern wird in unserer Gesellschaft an so vielen Stellen die Kompetenz abgesprochen:
- Dein Kind schreit? – Dann hast du es wohl nicht richtig „im Griff“ (was auch immer dieses im Griff haben bedeuten soll)
- Du bleibst wegen der Kinder zu Hause? – Du hast wohl keine Ambitionen zu arbeiten?!
- Du machst Karriere? – Rabenmutter!
- Du möchtest sogar in die Politik? – Aber wer kümmert sich in der Zwischenzeit um die Kinder?!
Egal was man tut, als Mutter kann man es nur falsch machen.
Und das System unterstützt diese Ungerechtigkeit mit unzureichender Kita-Betreuung, zu wenig Plätzen in Ganztagsschulen, mit einer Steuerpolitik, die durch Ehegattensplitting und Co. Kinderlose Verheiratete bevorzugt.
Lösungs- statt problemorientiert: was sich ändern muss
Was mich von dem Buch „Deutschland, ein kinderfeindliches Land?“* überzeugt, ist seine Lösungs- statt Problemorientierung. Nathalie Klüver ist Journalistin und das merkt man. Ihre Thesen sind gut recherchiert und so überzeugend, dass ich mich frage, warum die Politik all ihre guten Vorschläge noch nicht übernommen hat. Flexiblere Arbeitszeitmodelle, mehr Work-Life-Balance, geringere Wochenarbeitszeiten, dafür gegebenenfalls mehr Altersteilzeit – all das schlagen diverse Studien und Soziologen seit langem vor.
Nur leider haben unsere Politiker*innen an dieser Stelle kein offenes Ohr. Das liegt vielleicht auch daran, dass ein Großteil dieser Politiker*innen alte weiße Männer sind, die der Meinung sind, dass sie wichtigere Probleme zu lösen haben, als sich um Familien mit kleinen Kindern zu kümmern. Kein Wunder also, dass Nathalie Klüver die Familienpolitik als „Rasender Stillstand“ bezeichnet.
Das Buch plädiert für mehr Gleichberechtigung in allen Bereichen: weniger Adultismus, also Kinderfeindlichkeit bzw. Diskriminierung von Kindern, weniger Altersfeindlichkeit, also die andere Seite der Medaille, weniger Frauenfeindlichkeit.
„Frauen und Kinder zuletzt – Wie Krisen gesellschaftliche Gerechtigkeit herausfordern“ von Sabine Rennefanz*
Während Nathalie Klüver Deutschland kinderfeindlich nennt, bestreitet Sabine Rennefanz eben das bzw. ihre Kritik geht über die von Nathalie Klüver hinaus:
„Manche reden von einer kinderfeindlichen Politik, ich glaube, die Ursachen gehen tiefer. Einen Feind nimmt man ernst, man hält ihn im Blick, man denkt ihn mit, man hält ihn in Schach. Ein Feind ist eine potenzielle Bedrohung. Kinder schaffen es nicht einmal in die Kategorie „Feind“.“
Sabine Rennefanz, Frauen und Kinder zuletzt, S. 25
Ihr Argument lautet daher: Kinder sind in Deutschland völlig bedeutungslos, sie sind Privatsache der Eltern. Die Probleme sind also struktureller Natur, das sagt auch Nathalie Klüver. Und wer sich beschwert, darf sich eben den Spruch anhören „Dann hättest du eben besser keine Kinder gekriegt“ oder „Meine Oma hat im Krieg / nach dem Krieg… Worüber du dich beschwerst, ist doch lachhaft.“
Und dennoch hat Sabine Rennefanz einen ganz wichtigen Punkt, der bei Nathalie Klüver etwas weniger im Mittelpunkt steht: es sind nicht nur die Kinder, die in Deutschland viel zu kurz kommen und oft vergessen werden, sondern auch die Frauen – und dabei in erster Linie die Mütter sowie andere care-arbeitende Frauen.
Ein Plädoyer für mehr Empathie und Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft
„Frauen und Kinder zuletzt“* ist ein Buch, das mich als Leserin wütend hinterlässt, weil es so viele Missstände in unserer Gesellschaft aufzeigt, von denen auch ich – und meine Kinder – betroffen sind. Ich kann die Gefühle von Sabine Rennefanz so gut nachvollziehen, wenn sie schreibt, wie sie sich auf einer Dienstreise gefühlt hat und wie sie mit den Gedanken bei ihrer Familie zu Hause war. Genauso kann ich – und viele andere Mütter, die ich kenne – mein schlechtes Gewissen nie abstellen. Viele Väter kennen dieses schlechte Gewissen dagegen gar nicht.
Wenn ich das Buch so lese, dann stimmt es mich nicht nur wütend, sondern auch traurig – als Mutter von drei Mädchen. Wie kann es nur sein, dass die Welt so ungerecht ist? Da möchte ich beinahe (aber auch nur beinahe!) doch noch einmal schwanger sein, um einen Jungen zu bekommen, dem ich dann beibringen kann, was Empathie, Gleichberechtigung und Mental Load bedeuten. Aber wer weiß, ob das Baby überhaupt ein Junge werden würde – lassen wir das mit der Schwangerschaft lieber, Schwangerschaftsbeschwerden hatte ich ja beim letzten Mal auch schon mehr genug… Aber das ist ein anderes Thema…
Was mir in diesem Buch nicht so detailliert ausgeführt ist wie bei Nathalie Klüvers Buch und dementsprechend ein bisschen fehlt, ist die Lösungsorientierung. Die Problematik wird detailliert aufgezählt, aber es fehlt an ausgearbeiteten Vorschlägen, wie man die Probleme angehen kann. Allerdings ist das Buch von Sabine Rennefanz deutlich kürzer als das von Nathalie Klüver und auf weniger Seiten lassen sich natürlich auch weniger Lösungen darstellen.
Ein Perspektivenwechsel ist nötig – wie ist mehr Gleichberechtigung und mehr Kinderfreundlichkeit möglich?
Beide Bücher zeigen auf einem Großteil der Seiten die Missstände auf, die aktuell an der Tagesordnung sind. Die Probleme aufzudecken ist natürlich der erste Schritt, um einen Wandel herbeiführen zu können. Wie eine kinderfreundliche und gleichberechtigte Gesellschaft aussehen kann, steht in beiden Fällen jedoch erst seit weit hinten im Buch. Wie die Schritte dahin gestaltet werden können, kommt – wenn überhaupt – ganz zum Schluss und wird nur kurz angerissen. Hier hätte ich mir noch etwas mehr Details gewünscht.
Ein weniger kinderfeindliches Deutschland: wie geht das und wie kann Wandel entstehen?
Dazu hat vor allem Nathalie Klüver zahlreiche Vorschläge, die ich allesamt für absolut notwendig halte. Ein Auszug daraus:
- Die wichtigste Maßnahme, um Wandel möglich zu machen: Kinderrechte ins Grundgesetz.
- Mehr Partizipation und Mitbestimmung von Kindern in allen Bereichen, geringeres Wahlalter oder Familienwahlrecht
- Mehr Chancengleichheit und weniger Kinderarmut durch niedrigschwellige Angebote und Abänderung des Kindergeld-Systems in eine Kindergrundsicherung
Damit all diese Ideen umgesetzt werden können, ist es notwendig, dass Familien sich dafür einsetzen. Das kann jede*r mit den ihr/ihm zu Verfügung stehenden Mitteln tun: in der (Gemeinde-)Politik, in Elternbeiräten, in Arbeitnehmer-Verbänden etc. – und natürlich in den sozialen Medien, durch Berichterstattung in Magazinen, Nachrichten-Portalen oder Blogs wie diesem hier.
Ein Aufbruch zu weniger gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten im aktuell so kinderfeindlichen Deutschland?
Ansonsten stimme ich (leider) mit den beiden Autorinnen absolut überein: es gibt sehr viele Ungerechtigkeiten in unserem Gesellschaftssystem, von dem sowohl Kinder wie auch Mütter und Familien im Allgemeinen krass benachteiligt werden. Es ist absolut nötig, dass wir hier für Veränderung sorgen und die Punkte, die wir ändern können, sollten wir auch angehen.
Was mich dennoch nachdenklich stimmt: ich fürchte, dass die meisten Leser:innen beider Bücher Mütter sind – wie ich. Diese leiden mitsamt ihren Kindern am meisten unter dem System, können aber verhältnismäßig wenig bewirken. Wie viele bedeutende Frauen oder Väter, noch dazu vielleicht in Machtpositionen, werden diese Bücher lesen, sich von der Argumentation überzeugen lassen und Handlungen daraus ableiten?
Mehr zum Thema kinderfeindliches Deutschland zum Weiterlesen und -Hören:
- Sabine Rennefanz auf Spiegel.de über Deutschlands vergessene Kinder
- Nathalie Klüver im Interview beim Podcast vom Gewünschtesten Wunschkind
- Gastbeitrag von Nathalie Klüver auf Spiegel.de (Plus-Artikel)
- ein toller Instagram-Beitrag über fehlendes Verständnis für Eltern
- Noch ein Artikel auf Spiegel.de: Sascha Lobos Kolumne über kinderfeindliches Deutschland
Mehr über meine Blog-Reihe und Blogparade: Corona, Feminismus und Gleichberechtigung:
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