Was bedeutet bedürfnisorientierte Erziehung?
Ich schreibe hier ständig über beziehungsorientierte, bindungsorientierte oder bedürfnisorientierte Erziehung. Aber was genau bedeutet bedürfnisorientierte Erziehung eigentlich? Gibt es eine Definition von bedürfnisorientierter Erziehung?
Unerzogen, Bindungsorientiert, Geborgen Aufwachsen, Artgerecht, Montessori, Attachment Parenting – für respektvolle und liebevolle Erziehung, die die Bindung zwischen Eltern und Kindern in den Mittelpunkt stellt und die Bedürfnisse aller Familienmitglieder in Einklang zu bringen versucht, gibt es viele Worte.
Ich bin überzeugt, dass es auch nicht den einen Weg gibt, sondern dass sich jede Familie den Weg und die Hilfsmittel aussucht, die für sie passend sind. Dennoch spielt die Wahl der Worte, die wir benutzen eine große Rolle. Daher möchte ich diese Worte also mal genauer ansehen und eine Definition wagen:
Erziehen:
- ist ein Wort, das ich persönlich nicht mag, auch wenn ich doch zu oft verwende. Ich möchte meine Kinder nicht (er)ziehen. Ich möchte, dass sie sich – soweit das in unserem Umfeld möglich ist – frei entwickeln und wachsen können.
- Daher steht für mich bei meinen Kind die BEziehung statt der ERziehung im Fokus.
- Welche Alternativen gibt es zum Wort Erziehen? Beispielsweise (Artgerecht / Geborgen / Respektvoll) Aufwachsen, Familie leben, (in) (Ver-)Bindung leben
Beziehungs- bzw. bindungsorientiert bedeutet:
- der Fokus liegt auf der Beziehung bzw. der Bindung zwischen Eltern und Kind
- Bindung ist veränderbar wie ein Band, das dehnbar ist: je älter die Kinder werden, desto mehr kann sich das Band dehnen. Die Mischung aus Wurzeln und Flügel, Bindung und Freiheit ist also wichtig
- Niemand kann von einem einzigen Band dauerhaft gehalten werden, egal wie stark das Band ist. Daher braucht ein Bindungsnetz von mehreren Menschen (Eltern, Großeltern, Erzieher*innen, Lehrer*innen, Familienmitglieder, Babysitter, Nachbar*innen, Eltern von Freund*innen etc.), an die sich das Kind binden kann oder möchte. Das stärkt auch die Resilienz.
Bedürfnisorientiert bedeutet:
- der Fokus liegt auf den Bedürfnissen
- bei einem kleinen Baby sind Bedürfnisse wichtig und unaufschiebbar – aber auch hier gilt: je älter das (Klein-)Kind wird, desto eher ist es in der Lage (kurz) zu warten, bis seine Bedürfnisse befriedigt werden können.
- In einer Familie sind die Bedürfnisse aller wichtig – nicht nur die der Kinder. Auch die Eltern haben Bedürfnisse und alle Familienmitglieder sollten einerseits in der Lage sein, ihre Bedürfnisse zu formulieren und andererseits aber auch, die Grenzen der anderen Familienmitglieder zu akzeptieren. Wie diese Balance gelingen kann, fühlt einige Bücher.
Attachment Parenting:
Ein ausgiebiges Bonding nach der Geburt, Familienbett, (Langzeit-)Stillen, das Baby tragen, nicht schreien lassen, keine Schlaftrainings sowie Balance der Bedürfnisse von Mutter/Eltern und Kind – das sind die sieben von William Sears definierten Praktiken, der den Begriff „Attachment Parenting“ prägte. Im Englischen Original waren das die 7 Bs:
- Birth Bonding
- Breastfeeding
- Babywearing
- Bedding close to baby
- Believe in the language value of your baby’s cry
- Beware of baby trainers
- Balance
Das Attachment Parenting baut auf der von John Bowlby und Mary Ainsworth entwickelten Bindungstheorie (Theory of Attachment) auf, die die Eltern-Kind-Beziehung sowie deren Entwicklung in der Baby- /Kinder- sowie Teenager-Zeit untersuchte.
So sehr diese Praktiken sich auch an den Bedürfnissen der Kinder orientieren, muss man wissen, dass William Sears durchaus umstritten ist. Er war ein evangelikaler Christ und dadurch sehr konservativ und auch in seinen Büchern durchaus frauenfeindlich ist. So hat er beispielsweise die Berufstätigkeit von Müttern in seinen Büchern und Schriften abgelehnt.
Wie kann ein (für jede Familie ganz individueller) bedürfnisorientierter Weg aussehen?
Nicht für jede Familie funktioniert das Familienbett und nicht jede Mutter kann oder möchte stillen. Auch wenn ein Bonding z.B. direkt nach Geburt nicht möglich ist, heißt das nicht, dass man nicht Attachment Parenting leben kann.
Das muss am Ende jede Familie für sich selbst festlegen, welche Grenzen gelten. Oft macht es auch Sinn, Familienleitlinien gemeinsam zu besprechen und dann aufzuschreiben. Egal, ob in Stichpunkten oder ausformuliert, einfach getippt und ausgedruckt oder schön gestaltet, auch das ist selbstverständlich individuell.
Welche Leitlinien von bedürfnisorientierter Erziehung könnte man festlegen?
Dazu ein paar mögliche Beispiele:
- Wir erziehen „ohne Verletzung der Integrität unserer Kinder“, d.h. unsere Kinder werden keiner physischen oder psychischen Gewalt ausgesetzt. Wir würden unsere Kinder niemals schlagen oder verletzen. Wir wollen sie gleichzeitig auch nicht bedrohen, erpressen oder Erziehungsmethoden wie „aufs Zimmer schicken“ oder eine „stille Treppe“ verwenden. Es gibt auch keine „sanften“ Strafen wie Fernsehverbot o.ä., weil das Kind nicht tut, was wir wollen.
- Worte können Kinder ebenso verletzen wie physische Gewalt in Form von Schlägen. Wir wollen sie nicht beschämen und (theoretisch) auch nicht schimpfen. Uns ist jedoch wichtig, dass die Grenzen anderer und unsere eigenen von allen geachtet werden. Grenzen sind z.B., dass das eine Geschwisterkind dem anderen nicht weh tun oder es in Gefahr bringen darf.
- Wir nehmen unsere Kinder ernst und glauben nicht, dass sie uns mutwillig manipulieren wollen, wie manche Erziehungsratgeber uns glaubhaft machen wollen. Kinder „trotzen“ nicht, um sich mutwillig gegen uns Eltern / Erziehungspersonen aufzulehnen. Sie befinden sich in einer Autonomiephase und nicht in einer Trotzphase. Daher wünschen sie in dieser Zeit, möglichst viel selbst machen zu können („alleine machen, Mama!“).
Kinder schreien niemals aus purem Trotz, sondern weil sie in Not sind und ihre Bedürfnisse gerade nicht erfüllt sind (z.B. Hunger, Durst, volle Windel bzw. auf die Toilette müssen, zu wenig Aufmerksamkeit etc.) - Wir setzen auf gewaltfreie Kommunikation und verzichten auf kategorisierende Worte wie lieb / brav, böse / trotzig / motzig. Wir legen Wert auf friedliche Konfliktlösung und Kooperation. Ein Kind ist nicht lieb, sondern es kooperiert mit uns, weil das in seiner Natur liegt. Kann das Kind gerade nicht kooperieren, ist es nicht böse / trotzig, sondern eines seiner Bedürfnisse ist gerade unerfüllt. Es kann gerade einfach nicht anders. In dem Fall suchen wir einen Kompromiss mit unserem Kind und setzen auf Entgegenkommen – beim Kind und bei uns selbst als Eltern.
- Wir wollen unsere Kinder mit Erziehungsmethoden wie loben / belohnen und strafen nicht manipulieren. Stattdessen vertrauen wir darauf, dass unsere Kinder sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln. D.h. es braucht z.B. keine Anreize wie ein neues Spielzeug, um den Schnuller abzugeben oder ohne Windel auszukommen oder um im eigenen Bett statt im Familienbett zu schlafen. Unsere Kinder werden diese Entscheidung eines Tages von sich aus treffen bzw. haben diese Entscheidungen teilweise bereits getroffen – von ganz alleine und ohne Druck.
- Wir zeigen unseren Kinder unsere ehrlichen Gefühle. Das heißt nicht, dass wir immer froh und gut gelaunt sind. Wir sind authentisch und jeder ist mal schlecht gelaunt, aber wir wollen sie mit unseren Gefühlen nicht manipulieren. Wir verzichten auf Äußerungen wie „Jetzt ist Mama aber traurig, weil du nicht das tun willst, was ich möchte.“
- Authentisch sein bedeutet, dass wir keine Gefühle vorspielen, (im Optimalfall) auf Ironie und Sarkasmus verzichten, solange die Kinder das noch nicht verstehen, und dass unsere Kinder keine „Kunststücke“ machen müssen.
Ein „Zeig doch mal der Person XY, was du tolles kannst“ gibt es bei uns nicht. - „Nein heißt nein“: Wenn sich unsere Kinder weh getan haben, vor etwas Angst haben oder vehement gegen etwas wehren, dann gibt es dafür einen Grund. Wir respektieren das Nein unserer Kinder und zwingen sie nicht, etwas zu tun, was sie nicht möchten – auch im Sinne der Missbrauchsprävention. Wenn sie Angst haben, nehmen wir diese Angst ernst. Wenn sie sich weh getan haben, trösten wir sie. Wir sagen dabei nicht „Ist doch nichts passiert„, denn es ist etwas passiert: das Kind hat sich weh getan, es ist traurig und hat Schmerzen.
- Unsere Kinder dürfen spielen, wie sie möchten und ohne Regeln – solange dabei keine Grenzen anderer überschritten werden (z.B. der Schwester das Spielzeug wegnehmen), niemand anderes verletzt wird oder etwas kaputt geht. Wir lassen ihnen dabei möglichst viel Freiraum und machen so wenig Vorgaben wie möglich, am besten gar keine.
Wir können Anreize geben, aber wenn das Kind nicht möchte, muss es selbstverständlich nicht spielen, was wir vorschlagen. Im Gegenzug können wir aber auch sagen, dass wir mit dem Spiel / Spielzeug des Kindes nicht mitspielen möchten, weil es uns gerade so keinen Spaß macht. Beim freien Spiel gibt es kein richtig und falsch, keine Bewertungen, sondern einfach nur viel Fantasie. - Einschlafbegleitung im Familienbett: Wir begleiten unsere Kinder beim Einschlafen und bleiben solange im Zimmer, bis sie eingeschlafen sind. Sie dürfen in unserem Schlafzimmer schlafen, solange sie möchten.
- Wenn sie woanders übernachten, bestimmen sie selbst, wann sie dazu bereit sind und wie sie das gestalten möchten. Wir überreden sie nicht und machen keine Aussagen wie „Du bist aber zu groß, um noch bei Mama und Papa im Zimmer zu schlafen“.
- Wir bestehen nicht auf Worte wie bitte, danke und Entschuldigung. Wir setzten stattdessen auf unsere Vorbildfunktion für unsere Kinder. Wenn wir diese Worte regelmäßig und ohne Sarkasmus / Ironie verwenden, werden unsere Kinder uns nachahmen und so die Bedeutung dieser Worte viel besser verinnerlichen. Wenn sie alt genug dafür sind, können wir ihnen erklären, was freundlich und was unfreundlich ist, wie ein respektvolles Zusammenleben funktioniert.
- Sie dürfen uns gerne im Haushalt helfen, sie müssen aber nicht. Auch hier setzen wir auf unsere Vorbildfunktion. Wir als Eltern sorgen für Ordnung, Sauberkeit, Essen kochen etc. Wir zwingen sie auch hier nicht zur Kooperation, sondern warten auf ihr Interesse.
Das ist eine lange Liste – aber das soll natürlich nicht heißen, dass wir als Eltern all diese Punkte genau so umsetzen müssen, wenn uns bedürfnisorientierte Erziehung am Herzen liegt. Wie gesagt, jede*r von uns und jede Familie entscheidet natürlich selbst und jede Familie kann und sollte ihre eigenen Schwerpunkte legen – orientiert an den Bedürfnissen aller Familienmitglieder. Denn:
Bedürfnisorientierte Erziehung heißt übrigens nicht:
- im Gegensatz zur Antiautoritären / Laissez-Faire-Erziehung, wie sie in den 1980er/90ern Mode war, finden wir nicht, dass unseren Kinder keine Grenzen gesetzt werden sollten. Wir versuchen allerdings, Grenzen sparsam einzusetzen und unsere Kinder so viel wie möglich mitbestimmen zu lassen. Z.B. dürfen sie – sobald sie dazu in der Lage sind – selbst bestimmen, was und wie viel sie anziehen möchten, wann sie ins Bett gehen etc.
- es bedeutet auch nicht, dass die Kinder immer an erster Stelle stehen. Auch Eltern haben Bedürfnisse, die nicht ignoriert werden sollten und können.
Warum bedürfnisorientierte Erziehung? Welche Vorteile gibt es?
Bedürfnisorientierte Erziehung und Elternschaft, die sich auf die Bedürfnisse und die Bindung der Kinder ausrichtet, ist mehr Aufwand (z.B. wenn ich meine Kinder in den Schlaf begleite, statt einfach hinauszugehen und früher kinderfreie Zeit am Abend zu haben). Es bedeutet mehr Diskussion mit den Kindern, weil wir nicht von oben herab für alle entscheiden. Entscheidungen können immer wieder revidiert und gemeinsam mit allen Familienmitgliedern diskutiert werden.
Ich bin der Meinung, einer der Vorteile liegt darin, dass wir als Eltern wollen, dass unsere Kinder in ihrem späteren Leben keine Ja-Sager werden, die bedingungslos das tun, was andere (Arbeitgeber*innnen, Partner*innen, Freund*innen etc.) von ihnen verlangen. Wir wollen, dass sie glückliche Menschen werden, die andere Menschen und Lebewesen respektieren und wertschätzen. Daher erziehen wir sie mit Respekt und Wertschätzung.
Bei all dem Aufwand im Gegensatz zur klassischen Erziehung können wir uns bewusst machen, dass die Zeit, in der unsere Kinder klein sind, einen verhältnismäßig geringen Teil unseres gesamten Lebens darstellt. Und dass wir in dieser recht kurzen Zeit möglicherweise auf einigen Verzicht – zum Wohle unserer Kinder – bereit sind.
Weiterlesen zum Thema bedürfnisorientierte Erziehung:
- Vorurteile zum bindungs- und bedürfnisorientierten Familienleben – und wie man ihnen entgegen kann
- Warum Weihnachtslieder oft so gar nicht bedürfnisorientiert sind – und warum Bedürfnisorientierung in der Weihnachtszeit oft eine viel zu geringe Rolle spielt
- Bedürfnisorientierte Kita-Eingewöhnung – und welche Punkte es dabei zu beachten gibt
- Bedürfnisorientierung von A bis Z: mein Bedürfnis-ABC
Bedürfnisorientiert Grenzen setzen
Natürlich ist es nicht immer einfach, die Bedürfnisse in einer Familie in Einklang zu bringen. Nicht nur Kinder haben Grenzen, die respektiert werden müssen, sondern auch Eltern. Und was kann ich in einer stressigen Situation tun, um eben nicht zu schimpfen, sondern in Verbindung mit meinem Kind zu gehen?
Darum geht es in Teil II zum Thema Bedürfnisorientierte Erziehung: jetzt weiterlesen.
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Sonnenkinderleben.de: Ich bin Jenni und hier findest du mehr über mich.
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