Was bedürfnisorientierte Erziehung NICHT bedeutet oder: Warum bedürfnisorientierte Erziehung nicht bedeutet, dass es keine Grenzen gibt

[Buchvorstellung / Rezensionsexemplar]

In Teil I zum Thema bindungs- und bedürfnisorientiertes Familienleben habe ich darüber geschrieben, was Bedürfnisorientierung, Attachment Parenting und Co. bedeuten kann. Es ging auch darum, welche Richtlinien oder Leitlinien wir uns als Familie setzen können, damit im Alltag die Bedürfnisse jedes Familienmitglieds (weitestgehend) erfüllt und gleichzeitig die Grenzen von jedem gewahrt werden können. Doch was ist, wenn uns Eltern das Bewusstmachen dieser Leitlinien nicht mehr hilft, weil gerade nichts funktionieren will?

Wie können in einem bedürfnisorientierter Familienalltag die Grenzen aller Familienmitglieder respektiert werden?

Ja, ich gebe zu: auch ich habe zu den Eltern gehört, die dachten, dass Bedürfnisorientierung bedeutet, Babys und später den Kindern alle ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Und irgendwann habe ich festgestellt, dass mich das an meine physischen und psychischen Grenzen bringt – und teilweise darüber hinaus.

Seit Beginn der Pandemie sind meine Grenzen aus diversen Gründen noch viel weiter überschritten und ich frage mich seit langem, wie ich meine Grenzen definieren kann – ohne meine Kinder zu verunsichern.

An erster Stelle: es wird immer wieder unruhige Phasen im Familienleben geben, in denen eines oder mehrere Familienmitglieder unzufrieden sind, weil sie gerade unerfüllte Bedürfnisse haben. Dass immer alles glatt läuft, ist (meiner Meinung nach) eine Illusion – auch wenn uns Instagram und Co. manchmal meinen lassen, dass ein perfektes Familienleben möglich ist. Nein, ich denke, es wird im Familienalltag immer darum gehen, eine Balance der Bedürfnisse aller Anwesenden zu finden – gerade wenn Grenzen bereits überschritten worden sind.

Perfekt ist zu viel verlangt – gut genug reicht völlig. Deswegen mag ich auch den Spruch „Dein Alltag ist ihre Kindheit“ nicht. Viel schöner finde ich diese Aussage „Bedürfnisorientiert heißt nicht bedürfnisgarantiert“, die ich zuletzt bei Kiran Deuretzbacher gehört habe (eine absolute Hör-Empfehlung für ihren Podcast übrigens, siehe unten).

Außerdem: Kinder sind keine Roboter, sie lassen sich nicht fernsteuern oder programmieren und sie sind auch keine kleine Erwachsenen – kurzum: sie müssen nicht funktionieren!

Bedürfnisorientiert mit sich selbst: ein neuer Blickwinkel ist extrem hilfreich

Das Nicht-funktionieren-müssen trifft natürlich auch auf uns Erwachsene zu, aber wir sind immerhin diejenigen, die in der Lage sein sollten, Lösungen für stressigere Situation und unruhigere Phasen zu finden – indem wir unsere eigenen Grenzen deutlich machen oder z.B. indem wir ein paar Stellschrauben im Alltag ändern. Das kann das Reduzieren von Alltagsstress sein (soweit das möglich ist), das Bitten um Unterstützung von Familie, anderen Eltern / Freunden oder neue / andere Hobbys für die Kinder, die ihnen mehr zusagen.

Unsere Gesellschaft hat einen Defizit-orientierten Blick in den meisten von uns geprägt. Viel sinnvoller ist aber ein ganz anderer Blickwinkel: nämlich die Ressourcen-Orientierung. Das heißt: welche Dinge kann ich innerhalb meiner Ressourcen erreichen – also ohne meine eigenen Grenzen zu überschreiten und ohne dass mein Akku im roten Bereich ist? Und wie erfolgreich war ich damit bereits?

Es mag am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig sein. Doch so schaffen wir am Ende Frieden mit dem*der inneren Kritiker*in in uns und können uns selbst auf Augenhöhe und auf Grundlage unserer Bedürfnisse begegnen – wenn wir ehrlich zu uns selbst sind.

Bedürfnisorientiert Grenzen setzen – wie geht das überhaupt?

Und wenn es doch wieder zu viel Stress und Streit kommt und das Defizit-orientierte Denken wieder überwiegt, sind es Bücher, Podcasts, Austausch mit Gleichdenkenden (meinem Dorf – sei es virtuell oder vor Ort) oder ein paar Minuten Ruhe und Achtsamkeit, die mich zurück ins Gleichgewicht bringen.

Was mir noch hilft? Beispielsweise Ratgeber oder Karten, mit denen ich mir in einer ruhigen Minute die wichtigsten Fakten zurück ins Gedächtnis rufen kann. Hier meine liebsten Bücher- und Akut-Hilfe-Tipps:

„Meine Grenze ist dein Halt“* von Nora Imlau

Nora Imlau: Meine Grenze ist dein Halt - Kindern liebevoll Stopp sagen

Ich habe mich sehr gefreut, dass mir der Beltz Verlag das neueste Buch von Nora Imlau als Rezensionsexemplar zugeschickt hat: „Meine Grenze ist dein Halt“*. Und ich habe schon so unfassbar viel aus diesem Buch lernen können. Zum Beispiel:

Was bedeuten Grenzen eigentlich?

Grenzen können unüberwindbare Mauern sein oder kleine Gartenzäune, über die man drüber springen kann. Grenzen sind dehnbar – und manchmal jeden Tag neu verhandelbar, je nachdem wie (un)ausgeschlafen, gut/schlecht gelaunt, krank/fit usw. wir in den Tag starten oder wie lange der Tag schon andauert und was wir alles positives/negatives erlebt haben. Über all das und noch so viel mehr schreibt Nora Imlau in ihrem Buch. Und ich kann dieses Buch nur von ganzem Herzen weiter empfehlen!

Bedürfnisorientiert Grenzen setzen: Meine Grenze ist dein Halt - Buch-Zitat
Meine Grenze ist dein Halt – Buch-Zitat

La Pause: nachdenken und dann reden

Was ich von Nora Imlau auch gelernt habe, ist das Konzept „La Pause“. Es bedeutet: Wenn mir ein Kind eine Frage stellt und ich dazu tendiere schnell „nein“ zu sagen, ist es laut Nora Imlau sinnvoll, vor dem Antworten eine kurze Denkpause einzulegen. Ist die Frage / Bitte des Kindes wirklich so abwegig oder können wir so doch realisieren? Das können wir dem Kind gegenüber transparent machen, indem wir sagen: „Lass mich kurz darüber nachdenken“. Oftmals hilft es auch, Gegenfragen zu stellen: „Wie stellst du dir das vor?“

Ich habe festgestellt, dass ich so gleichzeitig öfter die Bedürfnisse des Kindes erfüllen und meine eigenen Grenzen wahren kann, obwohl ich weniger nein sage. Das bedeutet, dass mein Nein auch weniger verwässert wird. Wenn ich also „nein“ sage, dann bedeutet es das auch – aber die Kinder wissen gleichzeitig, dass ich nach reiflicher Überlegung zu diesem Nein gekommen bin.

Bedürfnisorientiert Grenzen setzen bedeutet liebevoll Stopp sagen:

Und genau darum geht es eigentlich auch in diesem Buch: Klarheit über die eigenen Grenzen und die, die uns für unsere Kinder wichtig sind, (wieder) zu erlangen. Für mich ist dieses Buch mit dem Untertitel „Kindern liebevoll Stopp sagen“ in gewisser Weise die Weiterentwicklung von Jesper Juuls „Nein aus Liebe – Klare Eltern, starke Kinder“* – zumindest erinnert es mich an Stück weit daran.

Nur dass ich Nora Imlaus Bücher viel leichter zu lesen finde als die Bücher von Jesper Juul. Ohne dass ich wirklich begründen kann, wieso. Denn ich bin absolut überzeugt von Jesper Juuls Ideen zum bedürfnisorientierten Familienleben, aber ich hatte Probleme mit seiner Art zu schreiben und zu argumentieren, seine Bücher bis zum Ende zu lesen und „durchzuhalten“ – wobei das natürlich Geschmackssache und eben nur meine sehr persönliche Meinung ist. Bei Nora Imlaus Schreibstil fällt mir das dagegen sehr leicht.

Davon abgesehen, ist Noras Buch natürlich wesentlich aktueller und sie benennt auch Themen wie Gleichberechtigung und (geteilten) Mental Load als wichtige Ankerpunkte, um Grenzen setzen und respektieren zu können.

„Mama, nicht schreien – 50 Impulskarten für einen entspannten Familienalltag“* von Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter

bedürfnisorientiert Grenzen setzen: Impulskarten

Wer es lieber kürzer mag, für den sind Impulskarten wahrscheinlich genau das richtige. Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter haben vor kurzem zu ihrem gleichnamigen Buch „Mama, nicht schreien!: Liebevoll bleiben bei Stress, Wut und starken Gefühlen“* dieses Impulskarten-Set herausgebracht.

Das Set besteht aus 50 Karten in sieben verschiedenen Farben. Es soll helfen, eingefahrene Beziehungs- und Denkmustern zu hinterfragen und aus ihnen herauszukommen. Und wie das mit Karten so ist, lassen sie sich auf die unterschiedlichste Weise verwenden z.B. indem ich mir jeden Tag / jede Woche eine Motto-Karte aussuche oder zufällig ziehe und mich in diesem Zeitraum mit dem Thema der Karte beschäftige.

Da mich gerade das Thema Grenzen besonders beschäftigt, habe ich mir die hellgrünen Karten zum bedürfnisorientiert Grenzen setzen genauer angeschaut: hier geht es um meine Grenzen, die meiner Kinder, das Kennenlernen und Respektieren von Grenzen, aber auch um feste sowie veränderbare Grenzen. Und um den Kreis an dieser Stelle zu schließen, kam bei mir innerlich wieder das Bild der Grenze als Gartenzaun aus dem Buch von Nora Imlau auf.

Wie kann bedürfnisorientiert Grenzen setzen noch gelingen? Meine Podcast-Empfehlungen:

  • „Wurzeln und Flügel“: den Podcast von Kiran Deuretzbacher hatte ich weiter oben schon erwähnt, wirklich empfehlenswert.
  • Auch im „Familie Verstehen“-Podcast von Kathy Weber geht es um das Thema bedürfnisorientiert Grenzen setzen: insbesondere Folge 90 ihres Podcast.
  • Und vom Gewünschtesten Wunschkind, also von Danielle Graf und Katja Seide, gibt es einen wunderbaren Podcast – Nora Imlau war dort übrigens auch schon zu Gast.

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